Sichtagitation Briefmarke KP Brehmer – Aby Warburg, von Michael Glasmeier
144 Seiten 978-3-86485-234-3 Textem Verlag 2020
»Wenn alle Documente verloren, genügt ein vollständiges Markenalbum zur Total-Reconstruction der Weltkultur im technischen Zeitalter.«
Aby Warburg
»Ich bin der Ansicht, dass der einzige Fortschritt der Kunst der ist, die ganze Intensität vom Ich auf das Wir zu verlegen. Sozusagen durch ideologische Kleptomanie müssen wir in die bürgerliche Kultur eingreifen, indem der Wert des persönlichen Eigentums, der der künstlerischen Schöpfung innewohnt, gemindert wird.«
KP Brehmer
Das Nachdenken über eine politische Kunst und ihre Geschichte ist in letzter Zeit Bekenntnissen zur Moral gewichen. Event, Immersion und das sogenannte Performative haben die Kontrolle übernommen. Die Frage des Sozialen hat sich mit der Frage nach individuellen Befindlichkeiten aufgelöst. Die lärmende Kunst geht am Krückstock der Theorie und eilt als in sich geschlossenes System von Biennale zu Biennale. In dem einvernehmlichen Getöse könnte neben ausgiebiger Marxlektüre etwas Philatelie hilfreich sein, um im Politischen das Soziale wieder aufscheinen zu lassen. Zu diesem leitet dieses Buch an.
Den Kunsthistoriker Aby Warburg und den Künstler Brehmer bei aller unterschiedlicher Herkunft, geistiger Ausrichtung und aus denkbar verschiedenen Nachkriegsepochen der Moderne in einem Essay zusammenzuspannen, ist natürlich ein Wagnis, das hier aber umso lieber eingegangen wurde, eben weil es ein Wagnis ist und weil es einmal gründlicher ausprobiert sein wollte, zwei Historiker des Politischen über ein Bildmedium, in diesem Fall über das etwas spezielle der Briefmarke, miteinander in Beziehung treten zu lassen, wobei es dabei kaum um ein mögliches Resultat, eine »glatte Lösung« (Warburg) ging. Wichtiger war es herauszuarbeiten, wie sich Denkweisen und Strategien gegenseitig erhellen und stützen. Insgesamt erscheint Warburg durch Brehmer um einiges politischer und Brehmer, der ja schon politisiert ist, wesentlich bildanalytischer. Beide Protagonisten widmeten der »grafischen Miniatur« des internationalen Postwesens jeweils nur für eine kurze Zeit ihre volle Aufmerksamkeit: Warburg, der schon seit seiner Jugend sammelte, vor allem in den Jahren 1926 bis 1928, Brehmer von 1966 bis 1972.
Die Betrachtungen Warburgs und Brehmers laden zur Entdeckung der künstlerisch und kulturell vielschichtigen Gattung Briefmarke jenseits der strengen Philatelie ein.
Zur Reihe Campo
Textem eröffnet eine neue Buchreihe zu Kunst und Ethnografie – CAMPO:
CAMPO, die neue Buchreihe zu Kunst und Ethnografie, ist der »Art, sich zu geben« gewidmet. Ganz gleich ob es um das Charisma einer Supermarkt-Filialleiterin, eines Saatpriesters oder von Gurken-Influencern geht.
CAMPO widmet sich Spiegelungen und Übersetzungsproblemen – in den Medien, zwischen Wissenschaft und Kunst, quer durch die Weltgegenden und wieder zurück.
Die neue Reihe CAMPO verweigert sich der willfährigen Rechtfertigung von Ritualen – Phänomene sollen verstanden und nicht nur erklärt werden. Dabei geht es darum, das richtige Wort für die jeweiligen Vorstellungen aufzuspüren.
Der erste Band der Reihe CAMPO widmet sich der intensiven Beschäftigung mit Briefmarken durch den Kunstwissenschaftler Aby Warburg und den Künstler KP Brehmer. Band zwei sind die in anarchischem Deutsch verfassten Tagebucheinträge der koreanischen Künstlerin Kyung-hwa Choi-ahoi. Im dritten Band schreibt der Ethnologe Fritz Kramer über seltsame Rituale an einer Kunsthochschule.
Bereits diese drei Bände zeigen die Bandbreite der neuen Reihe. Sichtagitation ist ein kunstwissenschaftlicher Text anhand des Alltagsdings Briefmarke, das Tagebuch Von Hamburg nach Wien und zurück, Alltagsethnologie reinsten Wassers und Unter Künstlern. Erkundungen im Lerchenfeld eine ethnografische Studie zu werdenden Künstlern.
Weitere Bände zu französischen Supermärkten, Monumentalskulpturen und Teppichen werden folgen.